Wenn Markenhersteller in „Direct-to-Customer“ einsteigen, stehen sie vor zwei großen Problemen: Sie verstehen den Endkunden nicht – und ihre Agenturen und Dienstleister verstehen sie oft nicht.
Egal ob B2C oder B2B, “Direct-to-Customer“ steht bei den meisten Marken und Herstellern aktuell ganz oben auf der strategischen Prio-Liste. Mit ganz wenigen Ausnahmen wollen heute alle Brands ihre Kunden direkt ansprechen – und nicht mehr nur wie bisher über Handelspartner. Das heißt nicht unbedingt immer, dass die Marken auch direkt an ihre Kunden verkaufen wollen. Aber was sie wollen und benötigen, ist der Zugriff auf den Kundenkontakt und die Kundendaten.
Den wenigsten gelingt dies bisher zufriedenstellend, denn die Grundlagen, die für eine erfolgreiche Direktkundenbetreuung notwendig sind, sucht man bei vielen Marken noch vergebens. Alle Prozesse und Systeme in den Unternehmen sind auf eine möglichst reibungslose Abwicklung für das B2B-Geschäft zwischen Herstellern und Händlern ausgelegt. Und die sind für die Abwicklung von Geschäften mit B2C-Kunden gänzlich ungeeignet.
Zudem gibt es bei vielen Marken bislang auch wenig echte Digitalexpertise. Fachkräfte sind auf dem Markt nur schwer zu bekommen. Und Outsourcing ist auch nur dann eine Lösung, wenn es im Unternehmen jemanden gibt, der diese Freelancer, Agenturen und Dienstleister steuern kann. Hier allerdings zeigt die Erfahrung, dass viele Inhouse-Manager die Sprache ihrer Dienstleister nicht verstehen. In der Folge kommuniziert man elegant (und teuer) aneinander vorbei. Und so erlebt man bei der Umsetzung von digitalen Transformationsprojekten immer wieder das Gleiche: Gestartet wird mit großem Elan und mit ernst gemeinter Unterstützung der Geschäftsführung. Doch irgendwann gerät der Prozess ins Stottern. Das Ausmaß der Tragödie ist abhängig von der Branche. Besonders betroffen sind Hersteller in Märkten, die hohe Anforderungen an die Produktdaten stellen oder in wettbewerbsintensiven Märkten agieren, wo es bei der Produktdarstellung auf die letzten fünf Prozent Detail ankommt. Häufig sind dabei nicht nur die Kosten und Budgets das Problem, sondern eine ganze Reihe unterschwellige Themen und vorprogrammierte Missverständnisse. Doch wer sich dieser Situation bewusst ist, kann typische Fehler vermeiden.
Dienstleister und Agenturen dürfen Hersteller und Händler nicht über einen Kamm scheren
In der Presse, auf Vorträgen, aber auch in Kunden-Pitches hört man immer wieder, dass „Hersteller und Händler“ in einer Gruppe zusammengefasst werden, die angesichts der Digitalisierung im Handel vor denselben Herausforderungen stehen. Aber: Wer Hersteller und Händler gleichsetzt und strategisch gleich behandelt, hat nichts verstanden und kann dementsprechend auch keine Lösungen für Hersteller entwickeln, programmieren und designen. Bei einem Händler mag es reichen, wenn der Dienstleister ein hübsches Shop-Frontend zaubert und ein paar SEO-Tricks vollführt. Ein Hersteller-Projekt hingegen ist ungleich komplexer.
Tradierte Händler eröffnen im digitalen Handel schließlich „nur“ einen weiteren Vertriebskanal oder versuchen mittels Cross-Channel zu verknüpfen. Dabei sind Händler hauptsächlich herausgefordert, in der Google-Suche nach oben zu kommen und ihre Daseinsberechtigung neben Amazon zu finden. Das sind unbestritten sehr knifflige Aufgaben – aber nahezu trivial im Vergleich zu der Komplexität, vor der ein Hersteller steht. Für Marken nämlich eröffnet sich mit dem Direktvertrieb eine völlig neue Welt. Ihr ganzes bisheriges Tun war in der mehrstufigen Vertriebsvergangenheit darauf ausgerichtet, die eigenen Händler gut zu betreuen oder internationale Geschäfte mit Distributoren abzuwickeln. Oftmals gab es auch noch Projektgeschäfte mit Großunternehmen oder es mussten Verhandlungen mit Verbundgruppen und Einkaufskooperationen geführt werden, die zwischen den Herstellern und den Händlern stehen. In der ein oder anderen Branche mussten Brands zudem noch ihre Verarbeiter koordinieren und schulen, damit diese ihre Produkte beim Kunden richtig konfigurierten und installierten. Und zusätzlich zu all dem galt es auch noch, Strategien zu Gebietsschutz, Kartellrecht oder Preis- und Konditionenmodellen zu finden.
Das alles war kompliziert genug und ist es heute noch immer – doch der digitale Direktvertrieb legt noch eine Schippe obendrauf. Hersteller auf dem Weg ins digitale Endkundengeschäft brauchen nicht nur einen Webshop und ein paar Strategien, wie sie ihre rebellierenden Handelspartner ruhigstellen. Sie müssen auch definieren, mit welchen Marken sie welche Kanäle bedienen wollen oder wie sie differenzieren sollten, um Sortimente und Marken zu schützen. Sie benötigen eine neue Logistik-Performance und müssen sich um einen (End-)Kundenservice kümmern, der sich zu deutlich längeren Zeiten als bislang den Sorgen und Nöten der Endkonsumenten annimmt. Und nicht selten wird dafür ein kleines Team von zwei bis drei Leuten rekrutiert, dass diese Monster-Aufgabe nun mit einem möglichst kleinen Budget und entsprechende Softwareunterstützung bewältigen soll. Dass das zumeist weniger gut funktioniert, liegt auf der Hand. All diese Hersteller-Herausforderungen müssen Agenturen mit nicht nur mit wachem Blick begleiten. Sie dürfen sie nicht unterschätzen und noch weniger unter den Tisch kehren!
Gutgläubiger Hersteller + unbedarfte Agentur = Dauerbaustelle
Dazu gehört nicht nur, von Anfang an lauthals darauf aufmerksam zu machen, dass ein kleines Team von zwei bis drei Leuten mit einem möglichst kleinen Budget eine derartige Monsteraufgabe nicht erfolgreich bewältigen kann. Es gehört auch dazu, auf einer gründlichen Standortbestimmung zu bestehen. Denn obwohl es von Experten allerorts gepredigt wird, machen sich viele Marken im Vorfeld keine Gedanken, wo sie stehen, welche Systemlandschaft sie haben, wie die neuen Systeme in die bestehende Infrastruktur passen und welche KPIs (z.B. Umsatz, Marge, Kundenkontakt) erreicht werden sollen. Stattdessen suchen sie nach einer Software für Probleme, die sie nicht verstehen. Der Auftrag an den Dienstleister, der das günstigste Angebot vorgelegt hat, lautet dann überspitzt: „Baue einen Online-Shop, der auf Shopware oder Spryker basiert, so aussieht wie der von „Hat-nen-Award-gewonnen“, so performant ist wie der von Zalando und unserer eigenen CI folgt.“
Wenn die Agentur dann darauf vertraut, dass der Hersteller seine Backend-Systeme und -Prozesse im Griff hat, sich nur die CI-Guidelines geben lässt und das Briefing (welches Briefing?) pflichtbewusst umsetzt, ist Ärger vorprogrammiert. Denn dann wird zu spät erkannt, dass die Systemwelt des Herstellers gar nicht darauf ausgerichtet ist, Produkt- oder Orderdaten an Konsumenten auszuspielen. Die Folge: Das Projekt wird zur Dauerbaustelle, auf der kontinuierlich nachgebessert wird. Und das kostet nicht nur Zeit und Geld, sondern treibt auch Mitarbeiter aus dem Unternehmen, in den Burnout oder beides.
Digitalisierung ist Chefsache
Die Standortbestimmung und das Lasten- und Pflichtenheft der IT sind natürlich auch noch keine Strategie. Doch die kann nicht allein von der Agentur oder dem IT-Dienstleister erarbeitet werden. Wenig empfehlenswert ist es auch, Digitalisierungsprojekte vom IT-Leiter verantworten zu lassen. Denn der hängt in der Regel unter dem kaufmännischen Leiter oder Geschäftsführer Finanzen und ist systembedingt eher Opfer des permanenten Sparprogramms als Innovationsmotor des Unternehmens. Ohne Zweifel ist die IT-Abteilung jedoch frühzeitig als wichtiger Partner in das Projekt zu integrieren und nicht erst am Schluss, „zur Umsetzung“. Und doch, es bleibt dabei: Marken im Zeitalter der Digitalisierung zukunftssicher aufzustellen, ist und bleibt Chefsache. Hilfestellung gibt es höchstens „on top“ – von Sparringspartnern oder Beratern, die – wichtig! – Strategie und Technologie verstehen.
Zusammenfassend sei gesagt: Wenn man als Hersteller bei einer Agentur nur einen Webshop „bestellt“, dann bekommt man auch nur einen Webshop. Mit etwas Glück einen, der (technisch) funktioniert. Was fehlt, ist ein integrierende Strategie sowie eine bereichsübergreifende Akzeptanz und Prozessadaption. Es gibt Wege, die besser sind. Aber die sind nicht einfach und schnell und billig. Das war einmal. Zirka 2008.
So entkommen Unternehmen dem Hersteller-Dienstleister-Dilemma
1. Testen Sie die Bereitschaft zum Change
Im Internet treten Sie gegen Leute an, die nachts vor lauter Ideen nicht schlafen können. Die schlägt man nicht mit einem dreiköpfigen Team, das zwischen 14.00 und 16.00 Uhr ein bisschen Zeit für Digitalisierungsprojekte erübrigen kann. Wenn man nicht die Leistungsfähigkeit und -bereitschaft aller zu involvierenden Abteilungen frühzeitig abfragt und -prüft, dann handelt man fahrlässig. Fahrlässig sowohl im Sinne des Projekterfolgs auch als – viel wichtiger – im Sinne der Mitarbeiterführung und -wertschätzung. Ergo: Brauchen wir vor dem Digitalprojekt nicht erst vorgeschaltet ein Kulturprojekt?
2. Formulieren Sie Ihre Ziele und bestehen Sie auf einer strategischen Planung
Auch Entscheider müssen nachdenken, bevor sie entscheiden. Aber derartige Zielformulierungen sind anstrengend und komplex, vor allem, wenn man nicht versteht, welche Fragen man stellen muss. Hier lohnt es sich, externe Unterstützung zu suchen, sei es klassische Beratung oder Strategie-Sparring. „Ein Webshop“ ist noch kein Ziel und „mehr Umsatz“ ist keine Strategie.
3. Realistische Kalkulation von Zeit-, Material- und Budgetbedarf
Die Erfahrung zeigt: Wenn ein Dienstleister für ein Projekt 150.000 Euro veranschlagt, ist es sinnvoller, 300.000 Euro für Extraschleifen einzuplanen als zu hoffen, ihn noch um 10.000 Euro nach unten zu handeln. Das sorgt auf beiden Seiten des Tisches nur für Frustration. Viel wichtiger ist aber die realistische Planung des intern erforderlichen Personalbedarfs. Man muss sich übrigens auch im Jahre 2019 nicht schämen, wenn man einen umfassenden „trackbaren“ Projektplan erstellt oder einfordert (egal ob dann mit Excel oder Slack).
4. Lassen Sie sich nicht auf agile Entwicklung ein, wenn Ihre Organisation nicht agil ist
Um die Kostenseite anfangs so gering wie möglich zu halten, bieten viele Dienstleister den Herstellern an, Projekte agil umzusetzen. Doch das ist keine Lösung für das Hersteller-Dienstleister-Dilemma, sondern das nächste Problem. Denn kaum ein Hersteller ist in seiner Organisation auf agile Entwicklung ausgerichtet. Agil heißt dann, die Agentur macht, was sie will und der Hersteller darf ab und zu überrascht sein, was gerade so passiert und an Zusatzbudgets bezahlt werden muss.
Unser Artikel von Ralph Christian Hübner ist auch im Brandblog erschienen.